|
Murathan Mungan:
Palast des Ostens
Palast des Ostens
Rezension von Sibylle Thelen
Die Helden in Mungans fünf Erzählungen sind allesamt Paare in ganz unterschiedlichen Konstellationen: Hirte und Räuber; Herrscher und Untertan; zwei junge Nomaden; ein Held, der seinem Todesengel begegnet; Feinde, die Vater und Sohn sein könnten; zwei unsterblich Verliebte, die im Diesseits nicht zueinander finden. Der Autor lässt seine Akteure in existenziellen Situationen aufeinanderprallen, um ihre Reaktionen mit der Beobachtungsgabe des Psychologen und der Wortgewalt des Poeten zu enträtseln.
- Sibylle Thelen stellt Meilensteine türkischer Literatur vor. Zu Gast sind die türkischen Autoren Muratan Mungan und Hasan Ali Toptaş. Eine Veranstaltung von ARTE und Robert Bosch Stiftung.
Literarisch gesehen war es ein besonderes Jahr, in dem Murathan Mungan geboren wurde: 1955 erschien "Memed, mein Falke", und mit einem Schlag wurde Yasar Kemal, der damals 32-jährige Autor dieses Romans, in der Türkei bekannt. Kemal, heute unumstritten der große alte Herr der zeitgenössischen türkischen Literatur, hat in seinem Werk immer wieder auf die Epen seiner Kindheit, auf die anatolischen Mythen und Heldensagen, zurückgegriffen.
Auch Murathan Mungan schöpft aus diesem Geschichtenschatz. Doch er gehört einer anderen Generation als Yasar Kemal an: Geboren und aufgewachsen in der Metropole Istanbul, Großstädter durch und durch, gestaltet er die alten Stoffe auf moderne Weise. Seine Helden sind Individuen, sie horchen in sich hinein, reflektieren ihre Ängste, empfinden Liebe oder auch Hass, stoßen an die Grenzen der Normen oder auch ihrer eigenen Möglichkeiten, und das alles im vertrauten Kontext der Überlieferung.
Diese typisch mungansche Herangehensweise zeigt sich beispielhaft im Erzählband "Palast des Ostens". Es ist das erste Buch des Autors überhaupt, das auf deutsch erscheint - in der Türkischen Bibliothek, die der Züricher Unionsverlag mit Unterstützung der Robert-Bosch-Stiftung derzeit aufbaut. Bisher sind von Mungan nur hier und da ein paar Geschichten übersetzt worden. Dabei hat der 51-Jährige nicht nur ein umfangreiches, sondern auch ein beeindruckend vielfältiges Werk geschaffen: Gedichte vor allem, Romane, Geschichten, Theaterstücke und Hörspiele zählen dazu, sogar Songtexte. Wer unter türkischen Popstars auf sich hält, hat ein Lied von ihm vertont. Der Autor jongliert mit seinen Talenten. Er scheut das Triviale so wenig wie er die Tiefgründigkeit fürchtet. Sein literarischer Cross-over entspricht dem Empfinden in den Metropolen, dem des jungen Publikums besonders.
Der "Palast des Ostens" vereint fünf Erzählungen, die Mungan in den vergangenen zehn, fünfzehn Jahren geschrieben hat. Sie fügen sich überraschend harmonisch aneinander. Allesamt sind es Paargeschichten: von den beiden 15-jährigen Freunden, die ein archaischer Initiationsritus erst zu Gegnern, dann zu Männern machen soll; vom Helden, der seinem Todesengel begegnet; von den Feinden, die Vater und Sohn sein könnten, aber einen bösen Machtkampf austragen; von den unsterblich Verliebten, die im Diesseits nicht zueinander finden können; vom Herrscher und dessen Untertan. Die Konstellationen sind grundverschieden. Mungan unterwirft sie dem selben Experiment: Er lässt seine Akteure in existenziellen Situationen aufeinanderprallen, um ihre Reaktionen mit der Beobachtungsgabe des Psychologen und der Wortgewalt des Poeten zu enträtseln.
So einfach und kraftvoll diese Sprache ist, so beklemmend sind die Erkenntnisse. In "Binali und Temir" tun sich Abgründe auf. Temir ist ein Hirte in den Bergen. Er ist wild, ungezähmt, aufgewachsen ohne Liebe. Dieser Mangel hat ihn autark gemacht, und doch ist der Junge auch schutzlos: "Außer seinem Filzumhang hatte er kein Zuhause.“ In diese Einsamkeit dringt Binali ein: ein verletzter Bandit, den Temir findet und in seine Höhle rettet. Binali spürt keine Dankbarkeit, in seinem Leben hat er nichts anderes als den Kampf kennen gelernt. Als er zu sich kommt, will er zuerst wissen, wo er selbst und wo seine Waffe ist, erst dann
Rezension von Sibylle Thelen